Mobbing ist weder schwarz noch weiß und manchmal gibt es schleichende Übergänge von einer Rolle in die Nächste. So gibt es Mobbing-Opfer, sogenannte Bystander (aktiv, passiv oder Mitläufer:in) und natürlich Täter wie auch Täterinnen. Manche durchleben möglicherweise auch verschiedene Rollen in diesem sehr komplexen Konstrukt.
So jedenfalls und um in voller Ehrlichkeit zu sprechen, war es bei mir. Zeit, sich nackt zu machen.
Erste Reihe du Opfer!
Ich kann mich an diese Zeit noch in Bruchteilen erinnern, aber den Ursprung bzw. die zwei Ursprünge aller Mobbingattacken, die ich in meiner Jugend erleben durfte, kann ich noch bildlich vor meinen Augen wie in einem Film sehen. Beide haben sich tief in meine Netzhaut eingebrannt und werden mit Sicherheit dort für immer eine Spur hinterlassen haben.
Es begann mit dem Ende der fünften Klasse in der Realschule. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt ein paar Freunde und habe mich super wohl innerhalb der Klassenkonstruktion gefühlt. Jedoch war die Klasse zu groß und so wurde von der Schule aus entschieden, diese in zwei Klassen aufzuteilen. Ich wollte natürlich unbedingt die Klasse mit meinen bisherigen Freunden teilen.
Doch daraus wollte nichts werden. Ich habe die Entscheidung alles andere als Gut geheißen, doch meine Worte wurden nicht gehört und das hat mir wohl vermittelt, dass mein Wunsch nicht zählt. Im Gegenteil und so musste ich mich irgendwann und unter ständigen Tränenausbrüchen geschlagen geben. Ich glaube, ich hatte schon immer einen Hang zur Labilität und dieses Erlebnis hat mich komplett aus der Bahn geworfen.
Ich bin sehr viel heulend zu Schule gekommen und habe auch öfter im Unterricht geweint, was bei einigen Mitschülern ein gewisses Interesse an mir weckte. Des Weiteren saß ich in der ersten Reihe, weil ich jede Form von Hörgeräten (damals noch richtige Klapper!) verweigerte und sonst nur wenig vom Unterricht mitbekommen hätte. Alles in allem also war ich ein gefundenes Fressen für all diejenigen, die mit Mobbing etwas zu kompensieren hatten.
So dauerte es nicht lange, bis eine eingeschworene Gruppe mich niedermachte, mit Papierkugeln bespuckte und beleidigte. Ich kann nicht mehr sagen, ob das alltäglich war, mit Sicherheit war es aber sehr häufig. So fing ich an mich in meine eigene kleine innere Welt zurückzuziehen, einen kleinen Schutzraum für mich zu bauen. Und um diesen immer größere, schwerere Schutzmauern.
Dabei half mir vor allem die Punk- und Metalmusik und später der Übergang zu UK-Hardcore Bands wie Agnostic Front oder die NYC-Band Madball. All die angestaute Wut konnte ich in dieser Musik kanalisieren und gleichzeitig konnte ich dadurch in meiner Gefühlswelt abstumpfen. Mich härter machen. Jedenfalls „vermeintlich“ härter machen. Ich bildete mir ein, dadurch irgendwann unantastbar zu sein.
Ich fing an mich wie ein Punk, später wie ein Emo zu kleiden, ließ mir einen Irokesen schneiden und hängte mir Nietengürtel um die Hüfte. Färbte die Haare und Fingernägel schwarz. Zu Hause verkroch ich mich in mein Zimmer und spielte stundenlang Ego-Shooter wie Counter-Strike und Rollenspiele wie Lineage. Teilweise 7–8 Stunden am Tag, manchmal sogar länger.
Ich rebellierte in vielen verschiedenen Formen! Da liegt es nahe, dass dies auch meine Eltern zu spüren bekamen. Ich lotste ständig die Grenzen aufs Neue aus und gleichzeitig wusste keiner was wirklich mit mir los war, denn schließlich redete ich aus Scham nicht über die vielen Geschehnisse in der Schule. Ich würde das schon irgendwie alles selbst hinbekommen. Schließlich bin ich ein Mann? Oder ein Indianer? So ein Schwachsinn.
Während dieser Zeit habe ich zwei Weggefährten in meiner Klasse gefunden. Wir hatten einen nahezu identischen Musikgeschmack, wir passten alle drei nicht ganz ins Bild der Schule und schon gar nicht in das Bild vieler Mitschüler- und Schülerinnen. Während wir also versuchten in der Randgruppe der Punks und Alternativen Fuß zu fassen, hat man uns hier eher als Möchtegern-Punks abgestempelt.
Somit haben wir selbst von all denjenigen, zu denen wir in der damaligen Szene wie Vorbilder hochgeschaut haben, auch nur Gegenwind bekommen. Da fängt man sich irgendwann an zu fragen: „Gibt es hier überhaupt einen Platz für mich?“, wenn alle nur immer auf einen draufhauen?
Die Phase der Anpassung
Irgendwann und ich weiß auch gar nicht mehr wie, hab ich angefangen mich an die anderen anzupassen. Ich hab angefangen mich anders und eben „normaler“ zu kleiden, hatte ein gepflegteres Auftreten und bekam immer mehr Zuspruch. Die Attacken hörten auf und ich konnte wieder richtig durchatmen.
Heute denke ich, dass das Bedürfnis „Dazuzugehören“ einfach so unfassbar groß gewesen ist, dass ich hier einen Teil meiner Persönlichkeit aufgegeben habe, um von den anderen akzeptiert zu werden. Das hat sich bis in mein „erwachsenes“ Leben durchgezogen, indem ich versucht habe, es immer allen recht zu machen und jedem Konflikt aus dem Weg gegangen bin. Die Angst vor dem nicht dazuzugehören war einfach zu groß.
Gleichzeitig wurde ich immer mehr als Teil der Gruppe gesehen und heute habe ich das Gefühl, dass sich dadurch die Attacken auf wenige Andere in der Klasse verlagerten. So wurde ich vom Mobbing-Opfer immer mehr zum Bystander und habe einfach dabei zugeschaut, wie die Mobbingattacken auf andere fallen. Viel mehr noch war ich meistens dabei und habe natürlich nichts dagegen unternommen. Wahrscheinlich habe ich sogar einfach das Spiel mitgespielt.
Immer, wenn ich daran denke und auch wenn die Erinnerungen nur aus Bruchteilen bestehen, überkommt mich ein mulmiges Gefühl. Inwieweit habe ich selbst zu den Attacken beigetragen? War ich zu diesem Zeitpunkt vielleicht auch schon ein Täter oder war ich wirklich immer nur dabei und hab zugeschaut?
Während dieser Zeit passierte ein anderes Erlebnis, dass für mich wohl noch etwas schwerwiegender war. Ein Freund von mir feuerte an Silvester eine Rakete in eine Gruppe von anderen Jugendlichen, was zu einer größeren Auseinandersetzung führte. Für die meisten von uns ging das glimpflich aus.
Für einen anderen Freund und mich allerdings nicht. So wurde ich an unzähligen Tagen am Bahnhof von einer kleinen Gruppe abgepasst, beleidigt und herumgestoßen. Machtlos, hoffnungslos und voller unterdrückter Wut.
Meine Rolle als Täter
Um ganz ehrlich mit sich selbst zu sein, muss man sich nackig machen. Splitterfasernackt und das ohne Ausnahme. Aufgrund der Mobbingattacken bildete sich diese unfassbar große unterdrückte Wut in mir. In Moshpits konnte ich diese entladen, aber Konzerte waren eben nicht an der Tagesordnung. Also musste die Wut auf anderen Wegen kanalisiert werden.
Zum großen Leid meiner Schwester, denn sie hat einen Teil meiner Wut abbekommen und das völlig ohne Grund. Als Vorwand dafür hatte ich damals die Band Tokio Hotel genommen, in die meine Schwester vollends verliebt war (so wie ganz viele andere Jugendliche). Ich habe die Band, warum auch immer, gehasst, konnte natürlich aber den Refrain selber auswendig singen.
Sowas von paradox. Jedenfalls hab ich die Liebe meiner Schwester zur Band als Anlass genommen, ihr das Leben schwer zu machen. Hab Poster von der Wand gerissen und sie alles andere als gut behandelt. Erst mit Ende meiner 20er ist mir das so richtig bewusst geworden und in diesem Moment hat es mir das Herz in zwei geteilt.
Das war eine sehr bittere Pille, die ich da schlucken musste, weil ich realisiert habe, was ich da potenziell angerichtet habe. Bis heute versetzt mir diese Realität ein kleiner Stich ins Herz, auch wenn wir bereits darüber gesprochen haben und sie das gar nicht mehr so krass vor sich sieht, wie ich das noch vor mir sehen kann.
kommunikation ist key
Es gibt keine Entschuldigung für Mobbing und doch gibt es Ursachen, die zu all diesem Leid führen. Keiner hat Mobbing verdient und es gibt auch keinen Grund, sich Mobbing zu verdienen. Gleichzeitig müssen wir uns Täter und Täterinnen annehmen und verstehen lernen, wo sich die Ursprünge des Verhaltens befinden.
In einem zerrütteten Familienverhältnis? In dem unermesslichen Leistungsdruck durch Gesellschaft und Elternhaus? Aufgrund eigener Mobbingerfahrungen? Aufgrund von Vernachlässigung? Ein fehlendes stabiles Umfeld? …
Wir müssen anfangen, das Thema offen anzusprechen und Kinder- wie auch Jugendliche dazu ermutigen, sich an vertraute Menschen zu wenden. Hier sind wir alle und insbesondere Eltern, aber auch vor allem Lehrer- und Lehrerinnen gefragt.
Daneben gibt es Vereine und Angebote, die Hilfe bei Mobbing anbieten. Leider hält sich das Angebot in Grenzen bzw. ist wenig intuitiv und ansprechend.
Liebe und Respekt
Kevin